Freitag, 10. Februar 2012

Ohne Bild und ohne Zitat - ohne Netz und doppelten Boden

ODER:
Was das Lausen mit Change zu tun hat.

Was ist hier bloß los? Kein Zitat zu Beginn, um den Text gleich in unseren großen Zusammenhang zu stellen?
Kein Bild, an dem man sofort erkennen kann, um was es geht?

Journalistische Texte, auch wenn sie als Essays daherkommen, brauchen Zitate. Dabei kann es sich um die wörtliche Rede einer renommierten Persönlichkeit handeln oder auch um das Zitat irgendeiner Ikone des Geistes wie zum Beispiel Einstein. Denn dem kann man so gut wie alles in den Mund legen. Wenn es kein schlauer Spruch ist, dann wird er durch seinen Mund zu einem. Dann vermutet man automatisch einen Kontext, der aus einer Banalität eine Erleuchtung macht.
Das mit den Zitaten wie auch mit den Bildern gehört sich so. Das macht man eben. Genauso, wie man sich einen Anzug anzieht, wenn man auf eine Abendveranstaltung geht. Es ist eine kulturelle Konvention, die sehr tiefe Wurzeln hat.

In unserem europäischen Mittelalter zum Beispiel begannen die Briefe der Denker an die Instanzen stets mit dem Aufruf allgemeingültiger Autoritäten – damals war zum Beispiel Aristoteles in. Damit wurde zur Kenntnis gegeben: „Ich bin ein kleines Glied in der Kette der gesellschaftlichen Ordnung. Ich akzeptiere die Ordnung so wie sie ist, und ich will ganz bestimmt nicht wirklich etwas ändern. Ich habe lediglich an einer kleinen Stelle eine Verbesserung vorzuschlagen. Aber es ist wirklich nur eine ganz kleine!“ - Diese Beruhigungs-Taktik war und ist notwendig; denn es gehört zu jeder Kultur, dass sie sich vor Veränderungen schützt. Sie bewahrt sich selbst, indem sie das Innovationstempo drosselt.

Veränderung verursachen Ängste. Wir haben Angst, dass unser Weltbild nicht mehr trägt, dass wir lernen müssen, dass wir vorübergehend inkompetent sind. Niemand will dastehen wie ein Depp. Wir wehren uns automatisch gegen Neues, damit niemand aus uns einen Depp macht.
Diese tiefe Angst vor Veränderung ist eine sehr wichtige Kraft aller Kultur. Wir brauchen Verlässlichkeit, weil unsere Welt komplex ist. Wir haben so viele Erfolgsalgorithmen entwickelt, nach denen wir blitzschnell Entscheidungen treffen können, die dann auch tragen. Wir sind gewohnt, Dinge auf den ersten Blick zu erfassen. Wenn sie unseren Erwartungen entsprechen, brauchen wir keinen Rechnerplatz im Gehirn zu belegen. Wir können uns auf die Aufgaben konzentrieren, die uns tatsächlich weiter bringen. Je besser die Vorurteile mit der Wirklichkeit übereinstimmen, desto sinnvoller greift der Erfolgsalgorithmus, desto mehr Rechnerplatz bleibt für den Fortschritt. - Und an dieser Stelle beißt sich die Katze in den Schwanz: denn den Fortschritt wollen wir nicht wirklich. Davor haben wir eine gesunde Angst. Niemand soll uns an die Vorurteile gehen...

Wenn sich etwas ändern soll, dann müssen Tricks angewendet werden, um die natürliche Abwehr gegen Veränderung aufzubrechen. Ein gutes Zitat ist so ein Trick. Etwas fortgeschrittener und wirkungsvoller ist es, mit Kunst zu arbeiten. Mit Kunst lassen sich zum Beispiel Visionen visualisieren. Und Visionen sind zwingend notwendig, damit ein Weltbild entsteht, das den Menschen Mut macht, sich in vorübergehend Inkompetenz zu begeben.
Außerdem lässt sich mit künstlerischen Mitteln alles dekonstruieren. Kunst (zumindest einige Richtungen) entspricht nicht den Erwartungen. Sie verwirrt, irritiert und bringt einen dazu, wieder über die Erfolgsalgorithmen nachzudenken. Das ist unumgänglich, wenn man Change will.

Change kontra Kulturbewahrungsinstinkt

An dieser Stelle gebe ich nicht der Verführung nach, meinen Text mit Op-Art zu illustrieren, um die Störung der Seh-Algorithmen zu belegen. Das wäre zu banal. Sie alle kennen diese Bilder, die etwas vorgaukeln. Sie alle wissen, dass Ihr Gehirn Schlüsse zieht, die meistens Sinn machen, aber nicht das zeigen, was tatsächlich da ist.
Auch sehe ich davon ab, näher auf das „MonaLisaPhänomen“ einzugehen: Warum fühlen sich so viele Menschen motiviert, ein Bild im Original anzusehen, das vor langer Zeit einmal bahnbrechend gewesen war und das man eigentlich kennt. - Das wäre eine so schöne Gelegenheit, meine bildungsbürgerliche Substanz zur Schau zu stellen. - "Seht her, ich anerkenne unsere kulturellen Wurzeln!"
Es wäre jetzt auch unglaublich angenehm, Derridas Ideen der Dekonstruktion anzuführen und hinter dem breiten akademischen Rücken Schutz zu suchen (Nach dem Motto: „Sehen Sie, der hat das auch gesagt und DER IST SCHLIESSLICH WER...). Aber eben genau darauf will ich verzichten.

Sie wissen nämlich auch ohne dieses Versteckspiel, wovon ich rede. Nichts ist wirklich überraschend an meinem Text, außer, dass ich auf der Unartigkeit bestehe, weder zu zitieren noch zu illustrieren. Es bleibt Ihnen also nichts weiter übrig als diesen Verstoß gegen die Konvention als sinnvoll, irrelevant oder inakzeptabel einzustufen.

Finden Sie ihn interessant, weil er eine Gewohnheit aufbricht, die überkommen ist?
Das Zitat ist in wissenschaftlichen Arbeiten wichtig, da man die eigenen Gedanken nachweisen und einordnen muss in die Erkenntnisse anderer. „Du sollst nicht abschreiben!“ lautet außerdem das erst jüngst viel bestätigte Gebot. Ich anerkenne das.

Aber was das allgemeine Nachdenken angeht, hat ein jeder Mensch seine Entscheidungsfreiheit.
Er wird für jede seiner Thesen Belege finden. Die Literatur gibt so ziemlich alles her.

Zu den meisten wissenschaftlichen Studien finden sich auch Gegenstudien. Ein paar Parameter vertauscht und im allgemeinen Rauschen der Medien lässt sich dann aus 1 ein -1 machen:
Die Pole schmelzen wegen des hohen CO2-Ausstoßes; die Pole schmelzen nicht deshalb. Ein Baby muss 6 Monate gestillt werden, ein Baby sollte gar nicht so lange gestillt werden. Fett muss in der Ernährung gemieden werden. Low-Fat ist schädlich.
Für jeden ist was dabei.
Je nachdem, was er glauben will.

Der Jedermann muss sich also auf seine Intuition verlassen. Er muss soziale Klugheit walten lassen, Autoritäten integrieren, Algorithmen anwenden, die bisher in seinem Umfeld funktioniert haben.
Und da wir uns gerade in einem gesellschaftlichen Umbruch befinden, sollten wir einen Blick auf die Rolle der Social Media werfen. Denn durch das Web 2.0 wackelt die Definition von Erfolg, oder zumindest die vom sozialen Umfeld.

Social-Media und Erfolg in der Primatengesellschaft

Was Social-Media angeht, funktionieren die alten Faustregeln, wie schon gesagt, nicht mehr so ganz.

In diesem Umfeld ist ein „Social Hub“ zum Beispiel, wer den Regeln einer bestimmten Offenheit folgt. Verteilen, kommentieren, kommunizieren, „befreunden“ sind hier das Rezept, wer zu werden. Hat man dazu auch noch fachlich was zu sagen, steigt man in der Hierarchie der Social-Media-Gesellschaft.

Es ist erfolgversprechend, möglichst viel zu zitieren und selbst zitiert zu werden. Die Algorithmen der relevanten Empfehlungs-Maschinerie spiegeln hier nur eine alte und kulturell verwurzelte Praktik.

Mit Katzenwitzen lässt sich ganz schön was reißen, denkt man. Aber es gibt nur einen, der mit Katzenwitzen was reißen kann. Alle anderen dienen seinem Erfolg.
Der Katzenwitzmacher wird zu einer Autorität. Zu einer Ikone des Erfolgs, in dessen Schatten man segelt.

Indem man Katzenwitze verteilt, folgt oder kommentiert, bestätigt man das System des Erfolges und wird Teil seines Algorithmus. Man gehört zu einer Gemeinschaft, und dass befriedigt gewisse Grundbedürfnisse.
Um Grundbedürfnisse geht es überhaupt:
Was den Affen das Lausen, ist den Menschen der Austausch von Belanglosigkeiten: Es stellt soziale Beziehungen her und festigt sie. Wir tun uns mit Small-Talk was Gutes. Wir streicheln uns gegenseitig die Seele.
Diese Streicheleinheiten, die wir uns gegenseitig verpassen, werden relevant, wenn es um Stellung im gesellschaftlichen Leben geht. Bei den Berberaffen z.B. wird Chef, wer die meisten sozialen Kontakte hat.
Chef sein ist nicht schlecht. Man bekommt als erster zu futtern.
Umgekehrt ist diese Regel auch sinnvoll, denn ein Clan sollte möglichst einheitlich auftreten, und das tut er am besten mittels eines integrativen Chefs.

Auf dieser Ebene betrachtet bedeutet die Verweigerung des Zitierens: Ich verweigere einem höher gestellten Stammesmitglied den Respekt. Ich verweigere das Lausen eines Höhergestellten. Ich lasse auch das Bild weg, und das kann schon fast als Angriff auf das Lausen an sich gesehen werden.

Spätestens jetzt wird die Sippschaft aktiv: Das Lausen, das ist eine Wohltat für die Seele. Darauf will man nicht verzichten. Es garantiert, dass man die integrativen Fähigkeiten eines potentiellen Chefs aufbauen und messen kann. Man braucht das Lausen.

Der Affe in mir wird dafür sorgen, dass ich den nächsten Artikel ganz brav mit einem Zitat beginne und einem Bild ausschmücke.

Es kostet mich ja nichts.

Sie werden es honorieren.

Die Change-Beraterin mit dem künstlerischen Hintergrund, die ich auch bin, verweigert dem Affen in mir, dem kulturellen Instinkt nachzugeben.

Kultur steht zur Disposition. - Auch in Ihrem Unternehmen. Man kann da was drehen...

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